Einen Moment bitte...

Einen Moment bitte…

Vorgeschichte:

Schon länger hatte ich vor, Angela anzurufen. Sie, die ehemalige Flüchtlingsheimleiterin, die eine Kollegin und ich 5 Jahre lang mit unserem Führungskräftecoaching begleiten durften (ihr Team 2 Jahre mit Supervision), arbeitet mittlerweile an einem anderen Standort – beim gleichen Träger als stellvertretende Heimleitung. Ich habe mir schon vorstellen können, dass sich die Situation der Flüchtlinge dort und wahrscheinlich in allen deutschen Unterkünften unter Corona noch einmal verschlimmert hat, doch was ich dann geschildert bekam, war unvorstellbar erschütternd – die Verwaltung des Elends (wie Angela es früher schon manchmal nannte) hat tatsächlich noch tiefere Abgründe in diesen Krisenzeiten bekommen.

Schutz:

Angela begann mit den Worten „Willkommen in der Corona-Schleuder“, und erzählte: Im Heim gibt es einige Infizierte, sowohl bei den Mitarbeitenden wie auch bei den Bewohner*innen – insgesamt leben ca. 300 Menschen dort. In den Medien wird über die derzeitig vorherrschenden Zustände, außer in seltenen Randnotizen, nicht berichtet. Das Personal hat erst nach Wochen Schutzmasken bekommen (für jede/n eine), die sie jeden Abend selbst auswaschen müssen. Weitere Schutzkleidung gibt es nicht – für die Flüchtlinge schon gar nicht. Für nächste Woche wird eine Ladung chinesischer Einfach-Masken erwartet: 100 Stück pro Heim… Wenn jemand von den Flüchtlingen infiziert ist, ist es kaum möglich, ihn zu isolieren, da eine Belegung von bis zu 5 Menschen pro Zimmer gar keinen Raum lässt. Auch für die Kontaktpersonen eine Quarantäne aufrecht zu erhalten, ist schier unmöglich, denn durch die Anspannung steigt u.a. das Gewaltpotenzial. Wenn die Infizierten vom Gesundheitsamt nach Kontaktpersonen gefragt werden, geben sie keine Auskunft mehr, weil das für die anderen Mitwohnenden bedeuten würde, räumlich noch enger zusammenrücken zu müssen und sich dadurch noch schneller zu infizieren. Vorschlag von Angela: zumindest die Risikomenschen in eine gemeinsame Unterkunft zu verlegen, stattdessen plant die Behörde ein Corona-Flüchtlingsheim zu errichten…

Räumlichkeiten:

Die Toiletten werden gemeinsam genutzt, weil es gar nicht geht, eine Toilette speziell für die Kranken zur Verfügung zu stellen, weil niemand weiß, wer denn gerade zur Infizierten­gruppe gehört. Diagnostizierte Infizierte bekommen ein spezielles Reinigungsmaterial, welches sie nach dem Toilettengang benutzen sollen. Die Wirksamkeit kann nicht überprüft werden. Des Weiteren gibt es eine zentrale Essensausgabe, über die alle ihr Essen beziehen, ebenso, wie es nur eine Gemeinschaftswäscherei gibt. Alles Zustände, die vor Corona für eine gewisse Zeit aushaltbar waren, aber jetzt gibt es keinerlei Perspektive auf fort­schrittliche Besserung. Im Team hatten sie schon überlegt, ein Stockwerk für Infizierte zu räumen, doch auch hier das Problem: wer hat das Virus, wer überprüft das und müssten nicht eigentlich alle in Quarantäne? Die zuständige Behörde liefert dann so „praxisnahe Ideen“ wie z.B. gestern im Videotext gelesen: in allen Heime mit Gemeinschaftsküchen sollten die Bewohner*innen das Essen nur noch in ihren Zimmern einnehmen. Das geschieht bereits dort im Heim, denn sie haben aus Platzmangel gar keinen Essensraum.

Außengelände:

Ein Außengelände gibt es bei diesem Heim nicht. Doch liegt diese Unterkunft in einem Industriegebiet, so dass die Nähe zu anderen Menschen nicht wirklich gegeben ist. Stehen die Menschen dann draußen auf der Straße vor dem Heim zum Frisch-Luft-Schnappen beisammen (natürlich nicht in den vorgegebenen 2er-Grüppchen), kommt die Polizei und fordert sie auf, sich in das Gebäude zu begeben. Von der Polizei dazu angehalten, das durchzusetzen, fragte Angela die Beamten: wie denn? Darauf die Polizei: „Sie können uns ja rufen, wenn es nicht klappt.“ Nachdem Angela das dreimal gemacht hat, tauchte nie mehr ein Polizeiwagen auf.

Die Außenwelt:

Nachdem ich Angela einige Zeit zugehört hatte und meine erste Sprachlosigkeit über­wunden hatte, fragte ich sie, warum man darüber nichts in der Presse liest und warum das niemand veröffentlicht. Ihre Antwort war, dass das ein Problem sei, welches sie am wenigsten anfassen wolle. Der eh schon aufgebrachte „Rechte Mob“, der sich durch Corona und durch die Politiker*innen in seinen eigenen gesetzlichen oft in Facebook benannten deutschen Ansprüchen eingeschränkt sieht, würde auf eine solche Gelegenheit nur warten – und dann gäbe es wirklich Krieg. Dann würden die Flüchtlingsunterkünfte brennen, denn sie (die Rechten) wussten es ja schon immer – Schuld an allem und vor allem an Corona sind nur die Flüchtlinge, und wenn nicht die, dann doch zumindest die Ausländer*innen, und die sind ja am ehesten in solchen Heimen greifbar. Da mutet der Vorschlag der zuständigen Behörde echt wie ein sehr schlechter Scherz an, die da vorschlug, doch außen an den Heime einen Aushang zu machen, wenn Corona-Infizierte darin leben würden – sozusagen als „Freifahrtschein“ für rechte Gewalt. Drum war dieser Vorschlag auch 2 Stunden nach der Veröffentlichung wieder vom Tisch.

Ein Einzelschicksal von vielen:

Angela erzählte mir einige, und dieses eine hat mich am meisten erschüttert. Eine hochschwangere Flüchtlingsfrau kam zur Entbindung in die Klinik. Angela nahm Kontakt zu denen auf und teilte mit, dass es sein könnte, dass die Frau Corona habe, da sie Kontakt zu Infizierten gehabt hätte, und sie wurde positiv getestet. Nach der Geburt wurde das Heim angerufen und gefragt, ob es denn unter diesen Umständen bereit sei, beide wieder aufzunehmen. Eine Entscheidung darüber hat das Heim abgelehnt, da sie sagen, sie seien ja keine Ärzte und verwiesen die Klinik zur Entscheidung an das Gesundheitsamt, die das Risiko einschätzen sollte.

Die Spendenaktion:

Nach einer schlaflosen Nacht und vielen Gedanken später stand mein Entschluss fest: hier muss geholfen werden – sofort! Diese Menschen (zusammen mit den Obdachlosen stellen sie das letzte Glied in unserer menschlichen Gesellschaft dar) und die Menschen, die sie betreuen, haben es verdient, dass man ihnen mit Respekt und Würde den Schutz gewährt, den sie brauchen – auch und vor allem in Krisenzeiten. Ja, wir alle wollen unser gewohntes Umfeld weiter behalten und haben teils Angst um die eigene Zukunft und um die der Welt, aber da gibt es tatsächlich noch tiefere Abgründe, die in Notzeiten ganz schnell aus den Augen geraten. Auch mir – das gebe ich zu. Doch die Schilderungen von Angela haben mir sehr heftig die Augen geöffnet. Also rief ich sie Dienstagmorgen an mit der Frage: „Was braucht ihr am nötigsten?“ „Masken wären echt eine Hilfe“, war ihre Antwort. Der Zufall wollte es, dass ich an dem Tag jemanden von der Tafel traf (für die ich seit 1,5 Jahren arbeite). Sie verwies an unsere Leitung Bärbel – ein wahres Netzwerkgenie, die mir wiederum einen Nähservice (Änderungsschneiderei und Reinigung) in den Schönhauser Allee Arkaden vermittelte, der Masken näht und verkauft. Ich vereinbarte mit dem afghanischen Chef, Herrn Jussufi, einen Sonderpreis von 4 €/Maske (normalerweise 5 €). und organisierte direkt 50 Stück zum Verschicken. Doch was sind 50 Stück bei einem Bedarf von am besten mehr als 350? Da kam mir die Idee, euch alle als mein Netzwerk mit einzubinden und um Unterstützung zu bitten und veröffentlichte danach den euch bekannten Aufruf. Bereits 24 Stunden später war die 400 € Marke geknackt, und es lief weiter. Am heutigen Abend (6 Tage später, Montag 7.45 Uhr) kann ich den Spendenstand von knapp über 1.000 € verkünden – großartig!

Angela bedankt sich schon jetzt mit folgenden Worten:

„Ja, es ist eine ganz tolle Aktion von euch! Danke für die Organisation und Beteiligung!!!“

Und ich:

Ich bin so wahnsinnig stolz – auf alle Helfenden, auch auf die, die nicht finanziell, aber auf andere Arten und Weisen diese Spendenaktion unterstützen. Samstag konnte ich 221 Masken kaufen (siehe Foto). Herr Jussifi verabschiedete mich mit den Worten: „Wir sehen uns bestimmt wieder, denn Sie machen eine gute Sache, und es wird noch mehr Geld kommen.“ Und es kam. Bei der derzeitigen Spendensumme (plus den bereits verschickten 50 Stück) wären wir bei über 300 Masken! Am Mittwoch werde ich die Masken „vor dem“ Flüchtlingsheim übergeben, weil dann das Team nach den Feiertagen wieder komplett ist und für die Verteilung sorgen kann.

Danke für euch!

Ranny Rüther

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Ute (Montag, 13 April 2020 10:31)

    Liebe Ranny
    Das sind wirklich heftige Zustände, die du beschreibst und man kann sich das gut vorstellen, wie schwer es ist - nicht nur in der aktuellen Krise - so zu leben und zu arbeiten. Ich finde toll, was du auf die Beine gestellt hast, um direkt vor Ort zu helfen! Und ich freue mich dass ich einen kleinen Teil betragen könnte. Danke <3

  • #2

    Angela Prodan (Freitag, 01 Mai 2020 07:47)

    Liebe Ranny,
    im Namen unserer Bewohner*innen und Kolleg*innen möchten wir Dir und allen Spender*innen ein großes Dankeschön sagen für die tolle Initiative, unser Wohnheim mit Schutzmasken auszustatten. Und dann auch noch so schöne bunte.  Wir haben inzwischen alle verteilt und die Geflüchteten haben sehr positiv und dankbar reagiert. Es ist eine sehr wertvolle und nützliche sowie notwendige Hilfe. Gleichzeitig ist es für uns Mitarbeiter*innen eine sehr gute Erfahrung, dass es Mitmenschen gibt, die sich auch um unsere Klientel sorgen und sie nicht übersehen bzw. nur negativ betrachten.
    Wir wünschen Euch allen, dass Ihr gesund bleibt / werdet.
    Liebe Grüße
    Angela und das Team der Rhinstraße

    AWO Refugium Lichtenberg
    Ansprechperson:
    Frau Angela Prodan